Sprachlich-literarisch-künstlerisches Aufgabenfeld
Dr. Martin Rohner
Erinnerung – Vernunft – Religion
Wenn Menschen ihr Erinnerungsvermögen einbüßen, verlieren sie ihre Orientierungsfähig-keit: Sie können nicht mehr „vernünftig“ handeln und in Eigenverantwortung leben. Ähnliche Folgen drohen auch bei einem „Gedächtnisverlust“ in gesellschaftlich-kultureller Hinsicht: Was wird aus der „Vernunft“, wenn eine Zeit nicht mehr die Erinnerungstradition angemessen zu artikulieren versteht, aus denen sich ihr eigenes Selbstverständnis und ihre ethischen Maßstäbe gebildet haben?
Das kulturelle Gedächtnis unserer „modernen“ Welt ist maßgeblich bestimmt durch die spannungsvolle Beziehung von Vernunft und Religion, konkreter: christlichem Glauben. So überrascht es nicht, dass diese Spannung neu ins Licht der Aufmerksamkeit rückt, wenn nach den „Erinnerungspotentialen“ gefragt wird, die wir nicht vergessen dürfen, wollen wir nicht über kurz oder lang die individuelle wie gesellschaftliche Orientierungsfähigkeit verlieren.
Damit stehen zentrale Probleme auf der Tagesordnung, die die ethische und geistige Situation unserer Zeit prägen: Auf welchem „Erbe“ baut Europa heute auf? Wie sind die Herausforderungen der Globalisierung und des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts einzuschätzen? Wie verhalten sich „säkularisierte“ Gesellschaft und kirchliche Glaubenspraxis zueinander? Wie ist den „Pathologien“ zu begegnen, die sowohl Religion als auch Vernunft immer wieder entstellen? Kurz: Welche „Gedächtnisstützen“ verbinden Vernunft und Religion heute so, dass eine menschenwürdige Zukunft möglich ist?
Dr. Peter Goßens
>>Zachor!<<
Die Erinnerung an die Shoah in der hebräischen Literatur der Gegenwart
>>Zachor!<< – >>Erinnere dich!<< – lautet eines der zentralen Gebote des Judentums. Über Jahrhunderte hat dieses Gebot die jüdischen Gemeinden der Diaspora zusammengehalten. Mit der Gründung des Staates Israel (1948) nahm das Gedenken eine neue Gestalt an, nun wurde auch an die vernichtende jüdische Kultur Europas erinnert. Doch der junge Staat tat sich schwer mit seinen kulturellen Wurzeln: Erst seit Anfang der 1960er Jahre wurde die Erinnerung an die Shoah Israel >>Identitätsstifter schlechthin<< (Moshe Zimmermann). Das Gedenken wurde zu einer >>säkularen Religion<< (ebd.), die alle Bereiche des sozialen, politischen und religiösen Lebens erfasste. Diese uneingeschränkte Bedeutung der Shoah als kollektiver Gründungsmythos des Staates Israel wird heute von Intellektuellen der >zweiten Generation< kritisiert. Die junge Generation von Schriftstellern und Historikern fordert eine >>Erinnerung ohne Mythos, ohne leichtfertige Vergleiche, ohne fertige Formeln<< (Saul Friedländer), die neue Formen der Erinnerung und einen differenzierten Umgang mit der eigenen Vergangenheit möglich macht.
Die Veranstaltung möchte sich den veränderten Formen der Erinnerung am Beispiel ausgewählter Romane und Erzählungen der israelischen Gegenwartsliteratur widmen. Junge Autoren wie z. B. Jacob Buchan, Orly Castel-Bloom, David Grossmann, Amir Gutfreund und Doron Lizzie sind keine überlebenden Zeugen des Genozid, aber dennoch ist die alltägliche Präsenz der Shoah in der israelischen Gesellschaft ihr zentrales literarisches Thema. Sie alle und hoffentlich auch uns beschäftigt die Frage, welche Auswirkungen das Gedenken an Unseren Holocaust auf die israelische Gesellschaft, aber auch auf das Leben jedes Einzelnen hat.
Prof. Dr. Sabine Kyora
Literatur als kulturelles Gedächtnis
So wie jeder Mensch ein individuelles Gedächtnis hat, existiert auch innerhalb einer Kultur ein gemeinsames, kollektives Gedächtnis. Dieses kulturelle Gedächtnis enthält Vorstellungen von der gemeinsamen Geschichte, aber auch von typischen Alltagsgegenständen und ihrer Bedeutung. Die Literatur wiederum – vor allem Literatur, die entweder von vielen gelesen oder die in den Institutionen wie Schule oder Universität häufig behandelt wird – kann dieses kulturelle Gedächtnis mit prägen.
Viele Autorinnen und Autoren der Gegenwartsliteratur wissen um diese Möglichkeit der Literatur und versuchen sie für ihre Zwecke zu nutzen. Walter Kempowski z. B. versucht in seinem „Echolot“-Projekt auch den Menschen einen Platz im kulturellen Gedächtnis zu verschaffen, die in der offiziellen Geschichtsschreibung keine Rolle spielen, die eher zur anonymen Masse gehören.
Auch Martin Walser, Ruth Klüger oder Bernhard Schlink arbeiten an der Frage, wie die Zeit des Nationalsozialismus im kulturellen Gedächtnis „gespeichert“ werden sollte.
Viele der jüngeren Autorinnen und Autoren erweitern das kulturelle Gedächtnis – in provozierender Absicht – dagegen dadurch, dass in ihren Texten Alltagsgegenstände der unmittelbaren Gegenwart eine wichtige Rolle spielen: Lebensmittelverpackungen, Markenjacketts oder Getränke-Varianten werden als bedeutsam verstanden und durch die Literatur in das kulturelle Gedächtnis transferiert. Beispiel: Benjamin von Stuckrad-Barre. Der Vortrag wird diese unterschiedlichen Konzeptionen von Literatur als kulturellem Gedächtnis in der Gegenwartsliteratur vorstellen.
Dr. Joseph Imorde
Das Gedächtnis der Kunst.
Deutsche Rom- und Italiensehnsucht
Seit den Zeiten Benedikt XIV. (1675-1758) werden die römischen Monumente nicht mehr als Steinbrüche für Neubauten benutzt, sondern geschützt und renoviert. Rom entwickelt sich zu einem Museum seiner eigenen Geschichte. Die große Vergangenheit dient als Legitimations-grund päpstlicher Ansprüche, später auch als Bezugspunkt für das geeinte Italien besonders für den italienischen Faschismus. Mit der Sicherung der Monumente setzt aber auch eine mediale Verbreitung römischer Ansichten ein, die dazu führt, dass noch heute eines der ausschlaggebenden Motive der unzähligen Bildungs- und Vergnügungsreisenden ist, zu verifizieren, ob denn am Platze steht, was nach den Büchern da sein soll. Eine ganze Industrie lebt von der Geschichte, deren Kenntnis schon lange nicht mehr Bedingung des staunenden Genusses ist. Die Unwandelbarkeit eines Bildes wird da erinnert und das längst gewusste und nach Italien mitgebrachte Vorurteil erneuert und zum Gedächtnis der Kunst erhoben. Der Beitrag möchte der schwierigen Frage nachgehen, inwieweit auch die Kunstgeschichte dazu beigetragen hat, vergangene Epochen ins Nostalgische zu verklären und womöglich ihres eigentlichen Gedächtnisses zu berauben!
Dr. Regina Stephan
Ungeliebt und abgerissen.
Vom Umgang mit der Nachkriegsmoderne im wiedervereinigten Deutschland
Die meisten größeren Städte, so wie wir sie heute kennen, sind Ergebnisse des Wiederaufbaus nach 1945. Dabei gab es nach dem Krieg völlig unterschiedliche Konzepte, die von der denkmalgerechten Rekonstruktion, über einen die historischen Straßenbildern nachempfindenden Wiederaufbau bis zum völligen Neuansatz in Stadtkultur und Bebauung reichten, für den auch großflächige Gebiete abgerissen wurden.
Während sich die historisierend wiederaufgebauten Städte mit ihren als intakt empfundenen Stadtbildern wachsender Beliebtheit erfreuen, werden seit den achtziger und v. a. seit den neunziger Jahren die Rufe lauter, die als Schandflecken empfundenen Bauten der Moderne abzureißen und durch Rekonstruktionen der Bebauung vor 1945 zu ersetzen. Hierbei wird billigend in Kauf genommen, dass eine ganz entscheidende Phase der Stadtgeschichte zerstört wird zu Gunsten einer Geschichtsklitterung, die nur Bilder der untergegangenen alten Stadt erzeugt, ohne mit deren Historie verbunden zu sein. Am prominentesten ist das Beispiel des Palastes der Republik in Berlin, der 1973-76 an Stelle des 1950 gesprengten Hohenzollernschlosses errichtet wurde und nun durch einen modernen Nachbau des alten Hohenzollernschlosses ersetzt wird. Am krassesten ist wohl der Bau der Schloss-Arkaden in Braunschweig, der das 1960 abgerissene Schloss durch ein riesiges Shoppingcenter mit Schlossfassade ersetzen wird und 2007 eröffnet werden soll. Dass dabei aus Rentabilitätsgründen der gesamte ehemalige Schlossgarten überbaut wird, ist symptomatisch für die Geschichtsferne der Rekonstrukteure.
Michael Denhoff
Anwesend – abwesend.
Zeit, Gedächtnis und Erinnerung in der Musik
Musik ist im Moment ihres Erklingens das schmale Zeitfenster, wo sich Vergangenes und Zukünftiges als Gegenwart verknüpfen. Indem Musik erklingt, verklingt sie auch und verwandelt durch ihre ephemere Gestalt die verstreichende Zeit in ein anderes flüchtiges Etwas, das ohne Gedächtnis undenkbar wäre: die Erinnerung.
Klänge können die Zeit, in die sie sich ausdehnen, zwar gleichzeitig aufheben, kraft dessen, wie sie dieser Zeit Gestalt geben, dennoch kann der Hörer ein Musikstück nie als Ganzes in einem Moment erfassen. Nur die Erinnerung und das Gedächtnis helfen ihm, das Gehörte im Nachhinein als eine Einheit zu begreifen.
Musik als wiederholendste aller Künste hat aber auch ihr spezifisches Gedächtnis, indem sie sich auf ihre eigenen und originalen Gestalten bezieht, diese klingend immer wieder vergegenwärtigt und dabei gleichzeitig auch das Material der Musikgeschichte aufruft.
Musik als Zeit, – die senkrecht steht / auf der Richtung vergehender Herzen -, wie Rilke sie beschrieb, entzieht sich bei ihrer Wahrnehmung der messbaren Zeit und vollzieht dabei eine Synthese, die den horizontalen Zeitverlauf von schon Gehörtem, gegenwärtig Erklingendem und noch Erwartetem aufzuheben scheint. Was klingend schon wieder abwesend ist, bleibt kraft der Erinnerung anwesend gegenwärtig und formt Sinn und Bedeutung stiftend die erlebte Zeit.
In ihrer flüchtigen Erscheinung erinnert Musik uns an unsere eigene Vergänglichkeit und lässt uns diese dennoch gleichzeitig vergessen, weil wir in ihr offenes Ohres unser Innerstes als Echo oder Widerschall erkennen, als Vorschein eines Besseren.
Gesellschaftswissenschaftliches Aufgabenfeld
Prof. Dr. Marianne Gronemeyer
Bildung im Zeitalter der Information
Das Thema, das mir für meinen Vortrag angesonnen wurde, stellt mich vor einer grundsätz-liche Entscheidung. Will ich den Forderungen, die die sogenannte Informationsgesellschaft an ein sogenannt modernes Schulwesen stellt, bedienen, oder will ich mich ihnen widersetzen. Uns Lehrenden wie Lernenden wird mit äußerster Dringlichkeit eingehämmert, dass wir die Anpassung an die Erfordernisse moderner ‚Wissensgesellschaften‘ zu unserem obersten Ziel erklären sollen. Längst entscheiden nicht mehr die Pädagogen, sondern die Ökonomen darüber, was in der Schule vorgehen soll, und sie erklären uns recht ungeschminkt, dass wir uns Platon und Shakespeare und die Bibel nicht mehr leisten können. Ich will dagegen darüber nachsinnen, wie eine Schule aussähe, die sich vornimmt, ein gastlicher und ein geistiger Ort zu sein, und die sich die Spuren der ökonomischen Dienstbarkeit nicht einzeichnen lassen will. Vielleicht ist ja das heute die Aufgabe der Pädagogen, die Forderungen einer ökonomieversessenen Gesellschaft nicht an die Schüler und Schülerinnen weiterzureichen: ‚Annahme verweigert!‘
Gottfried Kößler
Entkonkretisierung und Trivialisierung: NS-Geschichte – Steinbruch für universelle Menschenrechtsbildung?
Von der historisch-politischen Bildung wird in der Regel gefordert, einen Bogen von der Geschichte zur Gegenwart zu schlagen. Gleichzeitig werden aber nur sehr selten methodische Vorschläge gemacht, wie das gehen soll. Meistens bleiben diese beiden Pole voneinander entfernt stehen. Den Anspruch, dass man diesen Zusammenhang herstellen und dabei Antirassismus als Bildungsziel verfolgen soll, sehe ich in diesem pädagogischen Feld als Problem. Ein so hoch gestecktes Ziel ist – zumindest mit den vorhandenen Materialien und Arbeitsformen – eigentlich gar nicht erreichbar.
Die NS-Geschichte ist in den Medien und in den politischen Ansprachen allgegenwärtig. Sie ist oft zu einem Teil der Geschichten geworden, die erzählt werden, um auf etwas anderes zu verweisen. Wenn vom Holocaust die Rede ist, wird oft auf aktuelle Menschenrechtsfragen hingewiesen. Wenn ein Film vom Widerstand gegen die NS-Herrschaft handelt, wird das Thema Zivilcourage aufgerufen. Und wenn es ein Demokratie-Defizit in osteuropäischen Ländern gibt, versucht die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) mit Hilfe westeuropäischer Institutionen der historisch-politischen Bildung Aufklärung zu leisten.
Wie hängt das mit unserem schulischen Alltag zusammen, mit dem Gefühl, zu viel vom Holocaust zu hören und der gleichzeitigen Feststellung, zu wenig über die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges zu wissen? Was passiert in Unterrichtsstunden zum Holocaust, wie verständigen sich Lehrkräfte und Schülerinnen bzw. Schüler?
Prof. Dr. Wolf R. Dombrowsky
Katastrophe der Lernunwilligkeit. Erinnerung an den Fortschritt
In ihrer kulturoptimistischen Variante erschien „Fortschritt“ als positive Utopie eines wissenschaftlich-technisch fortwährend Besseren, das darüber schließlich zur besten aller Welten führe.
Erst zwei Weltkriege und die Folge- und Rückwirkungen großtechnischer Systeme haben den Erlösungsglauben vom Fortschritt als Lösung aller Probleme unwiederbringlich zerstört. Gleichwohl erscheint im Selbstbild der Moderne technischer Fortschritt noch immer als Lösung und nur selten als Teil des Problems. Diese Sichtweise kommt in der Konzeptualisierung von Katastrophe als „Naturkatastrophe“ radikal zum Ausdruck. Während nämlich die „technische“ Katastrophe nur als versehentlicher Un-Fall beim Fortschritt interpretiert wird, erscheint die Naturkatastrophe nach wie vor als dem Menschen unveränderlich gegenüberstehende Wirkkraft.
Gründe und Hintergründe dieser eigentümlichen Scheidung in mensch- und naturgemachte Katastrophen sollen beleuchtet werden. Sind wir für das, was passiert, selbst verantwortlich oder wirken höhere Mächte? Sind und bleiben wir Spielball der Natur oder können wir unseren Umgang mit Natur unfallfrei regulieren? Die Art unserer Antwort entscheidet darüber, wie wir „Katastrophe“ konzeptualisieren. Wer wissenschaftlich antwortet, müsste „Katastrophe“ konzeptualisieren. Wer wissenschaftlich antwortet, müsste „Katastrophe“ als empirische Widerlegung ansehen, als „Beweis“, die physische Welt und ihre Wirkprinzipien nicht richtig erkannt oder das Erkannte nicht richtig angewandt zu haben. Eine solche Selbstthematisierung scheint derart zu verschrecken, dass man lieber an übergeordnete Wirkkräfte delegiert und sich allen anderen Einsichten verschließt.
Kirstin Platt
Der Genozid an den Armeniern 1915/16 und seine Bedeutung für die heutige türkische und armenische Identität
Die Diskussion über die Erinnerung an den Genozid an den Armeniern wird noch immer von der Leugnung des Völkermords selbst belastet. Doch welche Erinnerung bestimmt das Erzählen in den armenischen Familien selbst? Inwieweit werden die Identifizierungen der heutigen dritten und vierten Generation nach dem Genozid von dem historischen Geschehen bestimmt?
Der Vortrag diskutiert anhand des Beispiels der amerikanischen Familien allgemein Identifikationskonstruktionen nach der Erfahrung extremer Gewalt.
Eine kurze Skizze zu Ursachen und Verlauf des Genozids von 1915/16 selbst sucht dabei deutlich zu machen, warum es nicht zufällig ist, dass ein Genozid die Frage nach der Identität aufwirft.
Kann man nach einem Genozid überhaupt von einer „gemeinsamen“ Erfahrung der Gewalt sprechen? Welche Charakteristika bestimmten Tätererinnerungen, welche Merkmale lassen sich für Überlebendenerinnerungen festhalten? Was heißt es, von einer Extremtraumatisie-rung in den Überlebenserinnerungen reden zu müssen? Welche Konflikte entstehen durch die Konfrontation der Familienerinnerungen mit der politischen Diskussion über das Gedächtnis des Genozids?
Dr. Thomas Polednitschek
Memoria und Müdigkeit
Warum wollen junge Menschen wie Frau W. nur noch Steine klopfen und keine Kathedrale bauen? Junge Menschen wie Frau W. wollen nur noch Steine klopfen und keine Kathedrale bauen, weil sie an der „Quarter-Life-Crisis“ leiden. Die „Quarter-Life-Crisis“ ist die Krise der früh erschöpften 25-Jährigen. Für die „Süddeutsche Zeitung“ sind es die jungen Menschen, die haltlos im Leben herumtaumeln, weil sie zu der ersten Altersgruppe gehören, die keine gemeinsamen Erinnerungen und Werte mehr hat. Ich würde es aus meiner Erfahrung in der psychotherapeutischen Praxis anders sagen: Dass die heute 20 – 40-Jährigen oft „ausgeglüht“ sind, ohne je „gebrannt“ zu haben, macht sie zu Zeitgenossen einer Nachmoderne, für die die kollektiven Erinnerungen keinen Wert mehr haben. Frau W. ist das Beispiel für einen solchen jungen Menschen, der nicht mehr unter den traumatischen Erinnerungen seiner individuellen Biographie leidet, sondern unter der Bedeutungslosigkeit jeglicher kollektiver Erinnerungen. Frau W. ist das Beispiel für das „subjektmüde“ Ich der Nachmoderne.
Dr. Tiemo Rainer Peters
Auschwitz – herausgeforderte Erinnerung
Auschwitz ist oft genug Thema moralischer Belehrung, Ziel einer Betroffenheitsrhetorik, die, indem sie das Grauen beschwört, zugleich an seinem Vergessenwerden arbeitet oder doch zumindest daran, dass man gar nicht mehr hinhört. Wie kann der Völkermord an den europäischen Juden und anderen Nazi-Opfern erinnert werden, ohne dass diese Erinnerung sich gleichsam selbst in den Rücken fällt und an ihrer eigenen Auslöschung arbeitet? Genauer: Wie muss das Gedanken dieses ungeheuerlichen Geschehens unserer jüngsten Vergangenheit beschaffen sein und welche Pädagogik könnte ihm an die Seite treten, damit dieses Datum nicht wie jedes andere irgendwann abgehackt ist, sondern weiterhin schmerzt? Aber eben auch dies ist ein Problem, das behandelt werden muss: Warum soll es überhaupt bleibend schmerzen und irgendwann, wie alle anderen Menschheitskatastrophen, in den Hafen des großen, alles verschlingenden Menschheitsgedächtnisses einmünden, ohne uns noch weiter zu beschweren? Haben wir Spätergeborenen nicht ein Recht darauf? Haben wir?
Mathematisch-naturwissenschaftliches Aufgabenfeld
Dr. Melanie Köhler / Anna Sokol
Erinnerung an den Anfang.
Zur Entstehung des Sonnensystems und der Erde
Im 18. Jahrhundert vermutete bereits Immanuel Kant, dass unser Sonnensystem, d. h. die Sonne als Zentralstern und die Planetenbahnen in Umlaufbahnen um die Sonne, aus einer rotierenden Gas- und Staubwolke entstanden sei. Dieser „solare Urnebel“ fiel ab einer kritischen Masse aufgrund der Gravitation in sich zusammen und es kam zur Bildung eines Sterns, unserer Sonne. Durch die immer schneller werdenden Rotation der umgebenden Staubwolke (Drehimpulserhaltung) entwickelte sich eine Staubscheibe, in der sich unsere Planeten und Planetenspiele, wie die Kometen und Asteroiden, bildeten. Durch Kollisionen dieser Objekte entstehen kleine Bruchstücke: Meteorite.
Meteorite sind natürliche Gesteine extraterrestrischen Ursprungs, die aus dem interplanetaren Raum auf die Erde gefallen sind, ob als winzige Staubkörnchen oder tonnenschwere Objekte, die Krater beträchtlichen Ausmaßes an der Erdoberfläche erzeugen können.
Zur Erforschung der Entwicklung unseres Sonnensystems werden einerseits Meteorite im Labor untersucht und andererseits die Entwicklung von anderen Sternen und Planetensystemen mit Teleskopen beobachtet.
Während der Präsentation wird ein Überblick über die verschiedenen Phasen der Sternentstehung/ -entwicklung gegeben, der die Entstehung unseres Sonnensystems und von der Erde beinhaltet. In diesem Rahmen sind Meteorite besonders interessant, da sie als erste feste Materie bei der Bildung des Sonnensystems gelten und somit Zeugen vom Ursprung der Sonne, der Planeten und ihrer Monde sind.
Prof. Dr. Hans Kerp
Einblicke in die Vergangenheit: Momentaufnahmen der Frühphase der Besiedlung der Festländer
Die Besiedlung der Festländer erfolgte erst relativ spät in der Erdgeschichte. Die ältesten Lebewesen werden auf etwa 3,5 Milliarden Jahre datiert, aber die frühesten eindeutigen Hinweise für eine permanente Besiedlung der Festländer durch höhere Landpflanzen und Tiere erst auf etwa 425 Millionen Jahre. Die ältesten Belege für die frühe Besiedlung der Festländer sind sehr spärlich. Um so überraschender ist die besonders herausragende Erhaltung von Pflanzen und Tieren in den etwa 410 Millionen Jahre alten Rhynie Cherts. In der Nähe des schottischen Dorfes Rhynie werden kieselige Gesteine (=cherts) gefunden, die zahlreiche fossile Pflanzen und Tiere in anatomischer Erhaltung enthalten. Diese Gesteine wurden in einem vulkanisch aktiven Gebiet, vergleichbar mit dem heutigen Yellowstone National Park, in Quellen und durch Überflutungen mit kieselsäurereichen Wässern abgelagert. In diesen cherts sind u.a. Bakterien, Pilze, Flechten, Algen, Gefäßpflanzen, Fadenwürmern, Krebse, Milben und Spinnentiere überliefert. Viele der bislang ältesten Vertreter verschiedener Pflanzen- und Tiergruppen wurden aus dem Rhynie Chert nachgewiesen. Darüber hinaus konnten die Lebenszyklen verschiedener Organismen nahezu vollständig rekonstruiert werden. Auch Symbiosen und Nahrungsketten konnten belegt werden. Es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass die Fossilisation sehr rasch erfolgt sein muss. Damit liefert der Rhynie Chert eine Reihe einmaliger Momentaufnahmen eines der frühesten festländischen Ökosysteme.
Dr. Johan H. Mooij
Wanderer zwischen den Welten.
Lernen und Orientieren im Raum-Zeit-System arktischer Gänse
Bereits in der Antike war bekannt, dass ein Teil der Vogelarten zwischen einem Sommer- und Winterlebensraum wechselt. Aber wo die meisten Arten hinflogen und wie sie sich während ihrer Wanderungen orientieren, wurde erst im abgelaufenen Jahrhundert weitgehend geklärt. Es zeigte sich, dass die Orientierung an der Sonne, den Sternen und dem Erdmagnetismus bei vielen Kleinvogelarten eine wesentliche Rolle spielt und dieses Verhalten meist angeboren ist. Bei Großvögeln, wie Gänsen, ist das Zugverhalten und der Zugweg nicht im Erbgut festgelegt. Sie müssen Zugverhalten und Zugweg von ihren Eltern lernen.
Weitere Studien zeigten, dass die „dummen“ Gänse weit lernfähiger sind, als bis dahin gedacht.
Eine Gans durchwandert, insbesondere in ihren ersten Lebensjahren (aber auch danach), eine ununterbrochene harte Ausbildung, die über Leben oder Tod entscheidet, z. B. muss sie von den Eltern lernen, welche Pflanzen man fressen kann und wo diese zu finden sind; welche Gefahren es gibt, wie adäquat zu reagieren ist und sich der Energieeinsatz bei der Gefahrenvermeidung reduzieren lässt; wie man am Sichersten und Erfolgreichsten durch den Winter kommt usw. Darüber hinaus müssen die Gänse, wenn sie einen Partner gefunden haben, sich zuerst kennen lernen und aufeinander abstimmen, bevor sie erfolgreich brüten und Junge großziehen können.
Wie beim Menschen, kommt bei den Gänsen der Jugendentwicklung unter Führung der Eltern eine überaus hohe Bedeutung zu.
Prof. Dr. Elmar Cohors-Fresenborg
Kognition beim Lernen von Mathematik. Erkenntnisgewinn durch Bildung von mentalen Modellen und den Gebrauch von Metaphern
Das System der in einer Kultur gebrauchten Metaphern spiegelt das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft wider. Erklären von Neuem durch Rückgriff auf die geteilten Metaphern verschafft den Lernenden Anschluss an bei ihnen vorhandenes Wissen.
Im Vortrag soll einerseits beispielhaft gezeigt werden, wie man das Lehren von mathematischen Begriffen durch Rückgriff auf Metaphern erleichtern kann. Dabei spielen auch die durch äußere Repräsentationen induzierten Modelle und Modellvorstellungen eine wichtige Rolle.
Andererseits liefert die Mathematik ihrerseits wieder ein System von Metaphern, in das der Mathematik-Kundige neues Wissen einknüpfen kann.
Wie sich diese Ideen für die Gestaltung von Lehr-Lernprozessen im Mathematikunterricht schon der gymnasialen Unterstufe nutzbringend anwenden lassen, soll im Vortrag an Unterrichtsbeispielen aufgezeigt werden.
Dr. Marc Tittgemeyer
Kann man Erinnerungen sehen?
Eine Einführung in den aktuellen Stand der Hirnforschung
In den letzten Jahren haben neue Techniken zur Beobachtung der Tätigkeit des Gehirns bestätigt, dass bestimmte Funktionen bestimmten Bereichen zuzuordnen sind. Jener Teil des Gehirns mit dem man sich beispielsweise eine Telefonnummer Merkt, unterscheidet sich von dem, mit dem man sich an ein Gesicht erinnert. Und der Vorgang, sich das Gesicht eines Prominenten vorzustellen, geschieht in anderen Schaltkreisen als die Vergegenwärtigung des besten Freundes. Immer klarer wird allerdings auch, dass die Funktionen der Wahrnehmung sich nicht wie Städte auf eine Landkarte festlegen lassen. So kann beispielsweise die Konsolidierung des Gedächtnisses ein kompliziertes Netz aus Zellen einbeziehen, die ihm Gehirn miteinander agieren. In diesem Sinne ist die moderne tomographische Bildgebung zu einer Schlüsseltechnologie der Neurowissenschaften geworden: Sie eröffnet sowohl die Möglichkeit diese Netze zu explorieren und erlaubt zudem die Gehirnstrukturen, die unseren mentalen Fähigkeiten zugrunde liegen, mit hoher räumlicher Auflösung direkt sichtbar zu machen.
Der Vortrag führt im Allgemeinen in die aktuellen Möglichkeiten der tomographischen Bildgebung des Gehirns ein, erläutert die relevanten Hirnareale im Bezug auf das „Erinnern“ und diskutiert am Beispiel der Alzheimerkrankheit, also einer Erkrankung die durch schwere Verwirrtheit und den Verlust des Gedächtnis gekennzeichnet ist, die verheerenden Auswirkungen, die durch die Schädigung hervorgerufen werden.
Dr. Michael Wunder
Von der alten und der neuen Eugenik.
Sind wir in der Lage, mit der Geschichte zu lernen?
„Wenn wir bessere Menschen herstellen könnten, durch das Hinzufügen von Genen, warum sollten wir es dann nicht tun?“ fragte James Watson, der Mitentdecker der molekularen Struktur der Chromosomen, 1998 auf einem Aufsehen erregenden Kongress in Los Angeles. Und Gregory Stock, ein anderer führender Bioethiker aus den USA, erklärte 2002 in einem vielbeachteten Buch, unsere genetische Selbst-Evolution sei auf Grund der bald zur Verfügung stehenden Biotechnologie nicht nur unausweichlich, sondern der höchste Ausdruck unseres Menschseins.
Längst wird heute im internationalen Diskurs der Biomedizin die Frage der Optimierung des Menschen durch genetische Manipulation der Keimzellen diskutiert. Das historische Tabu der Menschenzüchtung scheint sich schnell aufzubrauchen und allenfalls noch eine Domäne der deutschen medizinethischen Diskussion zu sein.
Ist die postmoderne Gesellschaft der genetisch manipulierten Menschen aber wirklich unausweichlich? Zum einen ist zu fragen, was die Genetik wirklich kann. Gerade die neuesten Erkenntnisse der Humangenetik lassen die genetische Verbesserung des Menschen durch gezielte Eingriffe in das Genom als pure Spekulation erscheinen. Zum anderen ist die Geschichte zu erforschen und zu fragen, ob der Mensch wirklich alles darf, was er kann. Ein breiter zivilgesellschaftlicher Diskurs über die Grenzen biotechnischer Anwendungen ist notwendig. Die Herausforderung der Biomedizin ist, die Differenz der Menschen als Chance zu verstehen und den genetischen Zufall als die wesentliche Voraussetzung seiner Freiheit.