Sprachlich-literarisch-künstlerisches Aufgabenfeld

Dr. Thomas Meurer
Mythos, Mystik, Religion

Ob Harry Potter oder der Herr der Ringe – die großen Welterklärungsmythen und damit zusammenhängend eine postmoderne Form der Mystik und der Religiosität sind heute gefragt. Die Bibel mit ihren Mythen macht demgegenüber einen eher schlechten Schnitt. Die Geschichte Frodos ziehen das Interesse stärker auf sich als die Erzählungen um Jakob. Was kann die Bibel in solchen Zeiten noch sagen? Stehen ihre Erzählungen überhaupt im Rang eines Mythos, der die Welt erklärt, Visionen eröffnet und zur Lebensgestaltung anregt? Findet Religion nicht längst woanders statt – überall, nur nicht in der Bibel und in der Kirche?

Prof. Dr. Horst-Dieter Blume
Ödipus, der blinde Rätsellöser

Wie kaum eine andere antike Tragödie hat der ‚König Ödipus‘ des Sophokles die Leser und das Theaterpublikum bis in unserer Tage fasziniert und provoziert. Was ist das für ein Mensch, der (nach der Geburt ausgesetzt und in der Fremde aufgezogen) vom Orakel in Delphi den Bescheid erhielt, er werde seinen Vater töten und die Mutter heiraten? Der das Rätsel der Sphinx löste und seine Vaterstadt Theben rettete und trotzdem Verderben über sie brachte, weil sich an ihm der furchtbare Götterspruch, ohne dass er es ahnte, längst schon erfüllt hatte? Und der auf der Suche nach dem Mörder seines Vorgängers auf dem Thron (seines ihm unbekannten Vater Laios) sich selbst als Täter entlarvt und zur äußersten Strafe am Ende die Augen aussticht?

Die Taten des Ödipus – Vatermord und Inzest mit der Mutter – sind extremste Tabubrüche, die nicht zur Identifizierung einladen. Pasolini hat in seiner Verfilmung (Edipo Re, 1967) das Fremdartige dieses Mythos durch eindrucksvolle Bilder aus Marokko herausgestrichen, in den Rahmenpartien aber die heutige Welt dagegengesetzt und aus Freud’scher Sicht zu deuten versucht. Moderne Interpreten haben im sophokleischen Ödipus bald den schuldlos einem grausamen Schicksal ausgelieferten Menschen gesehen, bald den Frevler, der für seine ungeheuren Taten büßen muss. Ein genauer Blick auf den Text erlaubt keinen Zweifel, das Ödipus übereilt und blindlings, und insofern eigenverantwortlich, jene Taten beging, die ihm vom Orakel vorherbestimmt waren.

Gabriele Vogelberg
Von Minotauren und Faunen.
Die Mythologie als Universalsprache in Picassos Werk

Der Vortrag widmet sich der Verarbeitung jenes Figurenrepertoires aus der antiken Mythologie, in denen sich Mensch und Kreatur miteinander zu geheimnisvollen Mischwesen verbinden. Dem sagenumwobenen Minotaurus, den Picasso vor allem in den 30er Jahren als Verkörperung dunkler Kräfte des Unbewussten, der Gewalt und des Todes interpretiert, werden der Hirtengott Pan, Faune und Kentauren gegenüberstellt, die eine heiter ausgelassene Stimmung und Frohsinn verströmen.

Die enge Verknüpfung von Kunst und Leben, mit dem Schlagwort „Kunst als Autobiografie“ definiert, wird insbesondere bei Picasso spürbar. In der Verarbeitung fremder Einflüsse reflektiert er nicht nur seine profunde Kennerschaft der Mythologie, sondern als Sprachrohr und Alter Ego des Künstlers verleihen sie persönlichen Konfliktsituationen bzw. erfüllten Lebensphasen bildlich Ausdruck: Während der Minotaurus eine ideale Projektionsfläche ehelicher Auseinandersetzungen mit Olga Kiklowa bzw. seiner Lebensgefährtin Marie-Thérèse Walter darstellt, kennzeichnen die dionysischen Wesen das idyllische Zusammenleben mit Françoise Gilot, der Lebensgefährtin der Nachkriegszeit.

Dass Picasso jedoch nicht ausschließlich an der bloß persönlich-intimen Ausdeutung des Mythos festhält, die Figuren darüber hinaus als gemeinverständliche Sprache aktuelles Zeitgeschehen vermitteln, möchte der Vortrag an Bildbeispielen aufzeigen.

Prof. Dr. Manfred Hermann Schmid
Mythos und mythisches Denken bei Richard Wagner

Wenn das Denken an seine Grenzen stößt, sucht es Zuflucht beim Mythos: in dem Bewusstsein, dass es etwas gibt, das verstandesmäßige Reflexion allein nicht erreichen kann. Der dichterische Mythos vermag darüber hinaus, Gemeinschaft zu stiften, wenn er in dunkler Weise etwas formuliert, das alle verbindet. Denn Mythos heißt vor allem Erfahrbamachung von Geschichte. Oder wie es Wagner im Jahre 1850 formuliert: Der „Mythos ist Anfang und Ende der Geschichte“. Denn in Mythen geht es um Überzeugungen und Wahrheiten aus fernen Zeiten, überliefert von den Ahnen und Vorfahren. Weil diese Wahrheiten rational nur bedingt fassbar sind, werden sie in Bilder übersetzt und in Form von Geschichten gebracht, Geschichten, deren Protagonisten keine Ideen sind, sondern Personen oder jedenfalls Lebewesen. An ihren Handlungen soll menschlich Allgemeines und gesellschaftlich Bindendes verständlich werden. Das ist ein Konzept aus der Frühzeit des deutschen Idealismus, dem Richard Wagner speziell für sein größtes Werk folgt, dem Ring des Nibelungen in drei Teilen und einem Vorabend.

In der Technik seiner Darstellung lässt sich Wagner zudem auf Ideen ein, die er der deutschen Rousseau-Diskussion des 18. Und des frühen 19. Jahrhunderts verdankt, dass nämlich Sprache in ihrer Reichweite begrenzt sei, Musik dagegen nicht. Wo Worte notwendigerweise enden müssten, habe die Musik noch Reserven. Das erlaubt es Wagner, „endliche“ Sprache und „unendliche“ Melodie als zwei Komponenten einander gegenüberzustellen oder auch zu verbinden. Das kann letztlich bedeuten, dass zentrale Botschaften im Ring gar nicht verbal, sondern ausschließlich instrumental verkündet werden, durch ein „Sprachvermögen“ des Orchesters. Unverkennbar äußert es sich an den wortlosen monumentalen Schlüssen im Ring, jenen von Rheingold und Götterdämmerung.

PD. Dr. Carola Hilmes
Die mythologische Macht der Namen.
Zur literarischen Rezeption der biblischen Eva-Figur

Der biblischen Lehre zufolge gilt Eva als Synonym für eine böse Verführerin, unter ihrem Namen wird immer wieder die dämonische Macht der Sexualität beschworen. Wenn von einer „neuen Eva“ die Rede ist, wie in der im Vortrag behandelten Literatur, sind andere Bilder des Weiblichen gemeint, solche, die aus der christlichen Tradition hinaus weisen, ohne ihr allerdings ganz zu entkommen.

Zwei literarische Versionen der Eva-Figur werden vorgestellt: Die Eva der Zukunft von Villiers de l’Isle-Adam von 1886 und Angela Carters Das Buch Eva von 1978, die die Bedeutung mythologischer Stoffe für die Literatur und für die jeweilige Zeit deutlich werden lassen.

Der französische Symbolist Villiers de l’Isle-Adam erzählt in seinem Roman die Geschichte des genialen Erfinders Edison, der für seinen Freund eine künstliche Frau konstruiert. Die Macht der Technik erhält hier mythologischen Rang.

Die postmoderne englische Autorin Angela Carter erzählt die Geschichte eines jungen englischen Literaturdozenten in Amerika, der durch unglückliche Umstände und groteske Verwicklungen „zur Frau umgebaut“ wird. Die nötige Psychochirurgie erfolgt mit Hilfe von Hollywood Filmen. In überzeichneter durchaus amüsanter Weise werden hier heutige Kulturtheorien abgehandelt: Freuds Mythos des Weiblichen, der die Frau als kastrierten Mann auffasst, sodann die endlosen Maskeraden und Travestiten des Ich – der Gender Trouble, der notorische Ärger mit dem Geschlecht – und schließlich die Mythen des Alltags und der Popularkultur. Die Wiederkehr des Mythos hat viele Gesichter.

Dr. Hans Gerhold
Erzählung versus Argumentation.
Die Brückenfunktion des Mythos in der interkulturellen Verständigung.

Erzählungen, vor allem mündlich weitergegebene, unterliegen nur bedingt dem Zwang zur formalen Finesse oder zur (Selbst-)Zensur, der sich in Argumentationen findet, die zweckgerichtet und strategisch arbeiten. In fiktionalen Konstrukten von der Anekdote bis zum Spielfilm herrscht das pointenorientierte bzw. dramaturgisch arrangierte Anschauungsmotiv vor. Der Sinngehalt des erzählten Stoffes wird verbal oder visuell in Symbolik eingekleidet. Der Gedankenstrom mündlicher Erzählungen hingegen, der speziell bei Kindern und Jugendlichen „meint, was gesagt wird“, bietet als Form unverstellter unzensierter Kommunikation Möglichkeiten, Grenzen zu überschreiten. Diese Grenzen sind nicht nur sinnlicher Natur (erotische Tabus in Teenie-Komödien), sondern – weit wichtiger – kulturelle und politische Differenzen.

Die interkulturellen Differenzen, die im Nahost-Konflikt, im offenen Bürgerkrieg zwischen Israelis und Palästinensern zu Tage treten, sollen als Beispiel für eine mögliche Überwindung genannter Grenzen dienen. Das Anschauungsmaterial liefert der Dokumentarfilm „Promises“ (Versprechungen), in dem der amerikanische Journalist B. Z. Goldberg von 1997 bis 2000 sieben jüdische und palästinensische Kinder zwischen neun und dreizehn Jahren interviewte und porträtierte. Ihre unverfälschten Einlassungen in Form von Erzählungen und Erlebnissen über den Nahost-Konflikt (und den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt, Hass und Vergeltung) zeigen, wie man miteinander ins Gespräch kommen und einen gemeinsamen Dialog führen könnte, der zwanglos Erzählung und Argumentation verbindet.

Gesellschaftswissenschaftliches Aufgabenfeld

Prof. Dr. Josef Früchtl
Go West!“ Von der Zweischneidigkeit eines amerikanischen Mythos

Den Ausgangspunkt bilden politische Verlautbarungen aus jüngster Zeit, wonach die Vereinigten Staaten von Amerika sich als legitimer später Erbe des Imperiums Romanums begreifen. Dieses Erbe hat zwei Seiten: die republikanische und imperialistische, die gewaltsame und freiheitliche Seite. Die Idee der Expansion ist dabei in den USA von Anfang an zu einem religiös fundierten Mythos geworden: ‚Go West!‘ hieß und heißt die Parole, ‚Überwinde die Grenze, die frontier!‘ Von diesem Mythos erzählt im 20. Jahrhundert kein Medium besser als der Film, und hier vor allem der Western. Deshalb kann man den zweischneidigen Anspruch US-Amerikas auch bestens an diesem Genre studieren. Am Beispiel von Sam Peckinpahs Erfolgsfilm The Wild Bunch (1969) soll das vorgeführt werden. Die analytisch leitende Maxime ist dabei, dass der Mythos semiotisch gesehen für ein Denken in verdichteten, aber scheinbar eindeutigen Zeichen steht, das sich zudem in Oppositionsverhältnissen bewegt, soziologisch gemeinschaftsstiftend funktioniert und philosophisch gesehen der Vernunft nicht einfach gegenübersteht, sondern eine eigensinnige Denk- und Ausdrucksform bildet. Man kann einen Mythos daher nicht ‚überwinden‘, sondern an ihm nur weiter arbeiten, um ihn den jeweiligen kulturellen Bedürfnissen entsprechend zu verändern.

PD. Dr. Jürgen Manemann
Gotteskrieger – Religion und Terror

Gott‘ und ‚Religion‘ sind in den letzten Jahren in den Medien kaum einmal so präsent gewesen wie seit dem 11. September 2001. Aber wie sieht diese Präsenz aus? Insbesondere die monotheistischen Religionen werden heute, nach den Attentaten, als Gewaltphänomen wahrgenommen. Sind die monotheistischen Religionen die Wurzel solcher Massenvernichtungsaktionen? Besteht zwischen Gewalt und Monotheismus ein ursächlicher Zusammenhang? Kann man Religion und Gewalt aufklären oder entziehen sich Religionen solchen Erziehungsversuchen? Der Vortrag wird sich mit diesen Fragen auf dem Hintergrund einer Verhältnisbestimmung von Religion und Terror befassen.

Prof. Dr. Dieter Oberndörfer
Völkische Nation und demokratischer Verfassungsstaat – Abschied vom völkischen Staat?

Das Staatsverständnis der bürgerlichen Gesellschaft des zweiten Deutschen Reichs war in hohem Maße gefärbt durch die völkische Ideologie der Romantik. Nach ihr sind Völker Abstammungsgemeinschaften, deren angestammte Kultur immer neu vor Verunreinigung durch Fremdes und Fremde geschützt werden muss. Die NS-Rassenideologie ist eine Extremform der völkischen Ideologie. Im Vortrag werden im ersten Teil die philosophischen Ursprünge der völkischen Ideologie, ihre gedankliche Struktur, ihre Verbreitung und politischen Folgen dargestellt.

Der zweite Teil behandelt das Fortwirken völkischen Denkens in Interpretationen des Grundgesetzes und der Ausländerpolitik. Der Vortrag mündet dabei in eine kritische Reflexion des Konfliktes zwischen den republikanischen Prämissen demokratischer Rechtsstaaten und ihren jeweiligen soziokulturellen Traditionen.

Bettina Gaus
Mythos: Medienstars. Ruhm, Geld, Unsterblichkeit

So genannte „Stars“ sind seit jeher Projektionsflächen gewesen für die Wunschvorstellungen, Träume und Ideale der jeweiligen Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat.

So war es einmal der Glamour der Königshäuser, der das Volk faszinierte. Heute möchte das Publikum darüber hinaus glauben dürfen, auch ihm stünden mit einigem Glück alle Türen offen. Boris Becker, Veronika Feldbusch, Joschka Fischer und der RTL-Superstar haben, allen Unterschieden zum Trotz, etwas gemeinsam: Sie verkörpern den Traum von einer Welt, in der jeder und jede einzelne – ungeachtet der Herkunft und der Startchancen im leben – es bis „ganz nach oben“ schaffen kann.

Helden haben in Deutschland – noch – keine Konjunktur. Die Frage ist politisch relevant, ob raffinierte Manipulationstechniken der Massenmedien das leicht ändern könnten. Wie und wo gibt es eine Gegenwehr?

Prof. Dr. Klaus Hansen
Der Gott Fußball. Aspekte einer Massenfaszination

Das Fußballspiel, wie wir es heute kennen, geht auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Zunächst eine exklusive Angelegenheit englischer Eliteschulen, entwickelte sich der Fußball mit der Proletarisierung und Verstädterung der Industriezivilisation zu einem Arbeitersport und ist heute der beliebteste Volkssport weltweit, vor allem als rezeptives Zuschauervergnügen. Bei der Fußballweltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea beliefen sich die erfassten Fernsehzuschauerzahlen auf ca. 40 Milliarden. Statistisch gesehen hat sich damit jeder der 6 Milliarden Erdenbewohner sechs- bis siebenmal in die Turnierberichterstattung eingeschaltet.

– Was ist der Grund unseres rezeptiven Gefallens am Fußball? Warum fasziniert Fußball den Zuschauer, gleich ob als Stadionbesucher oder als „couchpotatoe“ im heimischen Pantoffelkino?

Dr. Silja Samerski
Der Mythos vom „Gen“

Wenn wissenschaftliche Begriffe in die Umgangssprache auswandern, werden sie schnell zu modernen Mythen. Ein besonders krasses Beispiel für einen solchen Ausreißer aus dem Labor ist das „Gen“. Im Munde von Politikern, Journalisten, Ethikern und besorgten Bürgern, ist das „Gen“ ein Kürzel für die Programmierung des Schicksals, für die Manipulation am Leben, für unbegrenzte technische Machbarkeit und für die Heilsversprechen der Medizin. Fragt man dagegen einen Genetiker danach, was denn nun ein solches „Gen“ genau sein soll, dann löst sich der „Grundbaustein des Lebens“ plötzlich in Luft auf. Je weiter die molekulargenetische Forschung schreitet, desto unmöglicher wird es zu definieren, was ein „Gen“ ist. Der Wissenschaftsphilosoph Philip Kitscher schlägt daher folgende „Gen“-Definition vor: „Ein Gen ist alles das, was ein kompetenter Biologe Gen nennt.“

Im Labor ist „Gen“ also gegenstandslos, das Wort bezeichnet etwas x-Beliebiges. Im öffentlichen Gespräch dagegen ist das gleiche Wort zu einer scheinbar unumstößlichen und bedeutungsschwangeren Tatsache geronnen, die Gemüter erhitzt, in den Medien Furore macht und Bioethik-Kommissionen auf den Plan ruft.

Diese unüberbrückbare Kluft zwischen einer unhaltbaren wissenschaftlichen Hypothese auf der einen Seite und einem öffentlichen Reizwort auf der anderen Seite dient als Ausgangspunkt, um die Eigenart moderner Mythen zu diskutieren, die zunehmend auf Konstrukten aus dem Labor aufbauen.

Mathematisch-naturwissenschaftliches Aufgabenfeld

 

 

Prof. Dr. Helmut Peukert
Nur Mythos an den Grenzen von Mathematik und Naturwissenschaften?

Nach Jahrhunderten ungebrochenen Fortschritts in Mathematik und Naturwissenschaften war man am Ende des 19. Jahrhunderts überzeugt, alle Probleme seien bei intensiver Forschung lösbar. Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts begannen sich Grenzen zu zeigen: die Vorsilbe „Un-„ wurde zur Vorsilbe des 20. Jahrhunderts. Als Erster entdeckte Max Planck die Unstetigkeit in der Physik. Für die Quantenmechanik, welche die klassische Physik ablöste, formulierte deshalb Werner Heisenberg die Unschärferelation. In der Mathematik bewies Kurt Gödel die Unentscheidbarkeit bestimmter Probleme in logischen und mathematischen Systemen. Karl Popper zeigte, dass naturwissenschaftliche Theorien nie vollständig verifizierbar sind und dass wir gerade in unserer wissenschaftlich-technischen Welt wegen der prinzipiellen Grenzen unserer Erkenntnis mit Unsicherheit in eine unvorhersagbare Zukunft hinein leben müssen, eine Einsicht, welche die Chaostheorie verstärkt. Bleibt uns dann nur der Rückgriff auf Mythen, die Gesamtinterpretation der Wirklichkeit zu bieten beanspruchen? Oder sind diese Ergebnisse ein Verweis auf unsere Freiheit in einer kommunikativen Lebensform, in der wir durch umwälzende Lernprozesse gemeinsam, auch unter Unsicherheit, in einer umfassenderen kritischen Rationalität immer wieder neu Lösungen für unser Zusammenleben finden können?

Prof. Dr. Gernot Münster
Atome, Quarks, Superstrings.
Auf der Suche nach der Weltformel

Welches sind die kleinsten Bestandteile der Materie? Welchen Gesetzen gehorchen sie? Und gibt es eine Weltformel? Schon seit langem haben sich die Menschen bemüht, in der Fülle der Erscheinungen die Grundbausteine der Welt und fundamentale Gesetzmäßigkeiten auszumachen.

Ausgehend von der Antike zieht sich dieses Bestreben durch alle Epochen der Wissenschaft. In diesem Vortrag werden einige Stationen dieses Themas in der Entwicklung der Physik nachgezeichnet. Dazu gehört auch die Suche nach einer „Weltformel“ durch Einstein, Heisenberg und andere. Es wird erläutert, was die heutige Physik mit ihren Quarks und anderen Teilchen hierzu zu sagen hat, und es wird auf die Superstring-Theorie eingegangen, die von einigen Physikern als faszinierender Ansatz zu einer Weltformel betrachtet wird.

Prof. Dr. Wolfgang Hein
Mathematik im Spannungsfeld von Mythos und Logos

Wenn die fundamentale Rolle, die die Mathematik in unser Gesellschaft spielt, überhaupt wahrgenommen wird, so überwiegend als Grundlage und Dienerin von Naturwissenschaft und Technik. Dieser einseitigen Sicht wird auch in der Schule Vorschub geleistet, wenn der Mathematikunterricht überwiegend von den Anwendungsbereichen her motiviert wird.

Der Vortrag versucht, einen „ganzheitlichen“ Blick auf die Mathematik zu werfen, indem diese Wissenschaft als eine Masche unter vielen im Netz des kulturellen Schaffens der Menschheit betrachtet wird, das zu zerreißen droht, wenn diese – oder eine andere – Masche aus diesem kompliziert gewobenen Netzwerk herausgelöst wird.

Insbesondere soll hier dem Thema entsprechend an einer Reihe von Beispielen aufgezeigt werden, wie die Entwicklung und die kulturelle Stellung der Mathematik durch die – für die abendländische Kultur insgesamt prägenden – Pole Mythos und Logos, Fides und Ratio geprägt worden sind, und welche Spuren andererseits innermathematische Entwicklungen auf die historische Relevanz dieser – scheinbaren – Gegensatzpaare hinterlassen haben. Als Beispiele seien genannt: Die Philosophie der Ionischen und der Eleatischen Schule, Pythagoräische und Platonische Kosmologie, Aristotelischer Rationalismus, biblische und profane Zahlenallegorese, mathematische Spuren in der Literatur.

Prof. Dr. Jost-Hinrich Eschenburg
Mythos der Zahl 5. Vom Drudenfuß zum Quasikristall

Die Zahl Fünf genießt in unserem Kulturkreis einen etwas zweifelhaften Ruf. Sie gibt sich gern als Freundin unseres Dezimalsystems, tritt wohl auch ganz ehrbar auf in Kunst (goldener Schnitt) und Biologie (Fingerzahl, Rose, Apfel), aber mitunter begibt sie sich in durchaus anrüchige Gesellschaft, wenn sie nämlich die Gestalt des Drudenfußes oder Pentagramms annimmt. Diesem Symbol werden allerlei Zauberei und Hexenwerk nachgesagt, und Geheimbünde aller Art haben sich von jeher seiner bedient, allen voran mehr als 2500 Jahren die Pythagoräer. Einem von ihnen, Hippasias, soll das Pentagramm zum Verhängnis geworden sein: Es öffnete ihm die Augen für die wohl bedeutendste mathematische Entdeckung der Antike, der Irrationalität, doch diese stand in krassem Widerspruch zu philosophischen Grundsätzen der Pythagoräer und konnte daher keinesfalls geduldet werden!

Die unbelebte Natur dagegen schien bis vor Kurzem nur wenig Interesse an der Fünf zu finden. Die Kristalle verachteten sie und verbündeten sich demonstrativ mit den Zahlen Zwei, Drei, Vier und Sechs. Vor 20 Jahren aber wurde ihnen ein illegitimer Bruder geboren, der Quasikristall, und der wählte schon bei seiner Geburt zum Ärger seiner Geschwister die Fünf zu seiner Königin. Es war eine späte, aber triumphale Rehabilitation des armen Hippasios, denn seine Beobachtung war buchstäblich die Grundlage für den neuen Formenreichtum, der zuerst von dem Mathematiker R. Penrose entdeckt wurde und in den Quasikristallen physikalische Bedeutung erlangte.

Saskia Reibe
Was ist der Mensch (schon)?
Aus dem Alltag der Kriminalbiologie

Der Kriminalbiologe Mark Benecke betrachtet eine Leiche – auch und gerade – als Brutstätte und Lebensraum für Fliegen und Maden(!).

Mark Benecke bezeichnet das krabbelnde und kriechende Viehzeug als seine „kleinen Assistenten“. Schwangere Schmeißfliegen zum Beispiel können einen toten Körper über Hunderte von Metern riechen. Wenige Minuten nach dem letzten Atemzug kommen sie angeschwirrt und legen ihre Eier in Augen, Mundhöhle oder Wunden. Kaum geschlüpft, fressen sich die hungrigen Maden durch die fleischlichen Überreste. Aaskäfer, Käsefliegen, Pelz- und Speckkäfer folgen. Und nun kommt die Wissenschaft: Wenn Biologen das Alter der Insektenlarven kennen, wissen sie, wie lange der Mensch schon tot ist. Um ganz sicher zu sein, päppelt Benecke hie und da Maden mit Leber auf – erwachsene Insekten sind leichter zu bestimmen.

Seine schweigenden Helfer können noch mehr: Die Insekten können auch Hinweise geben, ob Gift oder Drogen mit im Spiel waren.

Und manchmal verraten sie, ob der Fundort der Leiche wirklich der Tatort war…

Der Vortrag wird durch einen Film ergänzt, der den Alltag eines/r Kriminalbiologin anschaulich macht.

Prof. Dr. Bernhard Verbeek
Der Mythos vom neuen Menschen im Lichte der evolutionären Psychobiologie“

Schon die Propheten beschworen die Menschen, sich zu ändern. „Ziehet aus den alten Adam und leget an den neuen Menschen“, forderte auch der Apostel paulus seine frühe christliche Gemeinde auf – der Erfolg ist bis heute bescheiden. Auf angeblich rein wissenschaftlicher Basis versprach in der Moderne der Marxismus den Neuen Menschen, mit dem dann eine ideale Gesellschaft machbar sei – das erbärmliche Ende ist bekannt. Noch heftiger verlief das Experiment des Nationalsozialismus, der auf biologistischer Basis den Neuen Menschen versprach – das führte zu einer nicht für möglich gehaltenen Bestialisierung der bis dahin zivilisierten Welt. Psychologisch, mit einem einfachen Erziehungsrezept glaubten begeisterte Behavioristen den Neuen Menschen kreieren zu können – er blieb aus.

Heilslehren kommen und gehen. Die Probleme, die die Gattung Mensch mit sich selbst hat, hören nicht auf. Exzessive Plünderung des Planeten, Ökonomismus, Nationalismus, Rassismus, religiöser Fanatismus, Kampf der Kulturen und Terrorismus sind der aktuelle Hintergrund, vor dem der Mythos Mensch sich eine Analyse gefallen lassen muss. So sehr wir auch attraktive Selbstbildnisse pflegen mögen – der Mensch ist Teil einer kosmischen Evolution, die er beeinflussen, aber nicht abstellen kann. Er ist Teil eines dynamischen Universums – zweifellos ein ganz besonderer. Die Kenntnis der Gesetze, die auch den Menschen formten, hilft uns, sein Wesen zu verstehen und eine realistische Anthropologie zu entwickeln.